ARS GRATIA ARTIS
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Meister Rudolf diktiert seinem Schreiber Anfang aus Willehalm von Orlens Quelle: Bibliotheca Palatina, Cod. Pal. germ. 323 |
Was sehen wir hier auf dem Titelbild? Es ist die erste Seite eines Epos, verfasst von einem berühmten Schriftsteller des Hochmittelalters! Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen haben wir kein Problem damit, sein Werk auf überlieferten Pergamenten wiederzufinden. Er war ein hochgeschätzter Autor und seine Werke wurden immer wieder kopiert, um den Hunger nach erstklassiger Unterhaltung an den königlichen und herzoglichen Höfen seiner Zeit zu stillen.
Dieser Epiker heisst Rudolf von Ems (um 1195-1254), und ist der edle (und einzige) Künstler unter den Emsern. Bisher hatten wir es nur mit Generälen, Kardinälen und Heiligen zu tun. Aber Rudolf ist mehr als nur ein weiterer Namensvetter. Er ist eine wahrhaftige Größe, die die Zeiten überdauert hat! Tauchen wir deshalb ein in das Leben und die Leistungen dieses herausragenden Meisters der Feder.
Er war kein Minnesänger, wie man sie heute kennt. Er reiste nicht von Hof zu Hof, um sein Werk mit einer Laute begleitet vor einem aufmerksamen Publikum vorzusingen. Er war ein Autor im modernen Sinne des Wortes. Seine Originalschriften wurden, wie schon gesagt, auf Pergament kopiert und dann bei den Adelshöfen seiner Zeit verbreitet, wo sie gelesen oder vorgetragen wurden.
Über Rudolfs Lebenslauf ist leider nur wenig bekannt. Doch erlauben es die raren überlieferten Fakten schon, mit einiger Interpolation sein Leben auszumalen. Sein Name sagt uns, dass er ein jüngerer Sohn oder Neffe eines Emser Herren der Festung Hohenems gewesen sein kann; als Vater oder Onkel kommt einer der Brüder Rudolf und Godwin von Embs in Frage, die in den Annalen um 1180 als Ministeriale des Stauferherzogs Heinrich von Schwaben erscheinen.
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Ein anderer "Bewohner" der Festung Hohenems (William III.) aus Bocaccio (1410), Des cas des nobles hommes et femmes Quelle: Bibliothèke de Genève |
Liegt hier nicht eine historische Diskrepanz vor? Hatten wir nicht schon erfahren (Es war einmal ...), dass die Emser ja Ministeriale der Welfenherzöge waren, genauer gesagt von Welf VI., der die Burg Hohenems erbauen ließ? Aber keine Sorge! Der einzige Sohn Welfs VI., Welf VII., starb bereits 1170, woraufhin sein Vater alle seine Besitztümer Friedrich I. Barbarossa (1122-1190) vermachte. Dieser erste Stauferkaiser belehnte wiederum seinen Sohn Heinrich (als Herzog von Schwaben) damit, um diese Gebiete als Erbgut der Familie und nicht unter der Krone zu halten. Und die Ministerialen folgten mit dem Besitz. Also kein Widerspruch!
Zurück zu unserem Autor! Er wurde in der zweiten Hälfte der 1190er Jahre geboren, sehr wahrscheinlich auf der Festung Hohenems. So war ihm von klein auf bewusst, dass der normannische König Wilhelm im Auftrag von Heinrich VI. (damals schon Kaiser) auf der Burg festgehalten wurde. Wir können nur hoffen, dass ihn das nicht zu sehr geprägt hat. Als enger Verwandter, aber nicht Erbe des Burgherren, war er für eine geistliche Laufbahn vorgesehen. Er hat auf jeden Fall eine solide Schule besucht, schließlich war er sowohl in Latein als auch in Französisch gut bewandert und alle Werke seiner Autorenkollegen waren ihm wohlbekannt. Die Kathedersschule in Konstanz oder die Schule der Abtei St. Gallen, beide in der Nähe von Hohenems, sind die naheliegenden Optionen.
Er war ein vielversprechender Schüler, aber nicht dazu berufen, Geistlicher zu werden. Schon damals verfasste er Gedichte, die seine Lehrer verärgert haben müssen. Wir wissen das, da er selbst diese frühen Versuche in einem seiner Werke beschrieb als „Ich hân dâ her in mine tagen; leider dicke gelogen; und die liute betrogen; mit trügeliche maeren“, was er bedauere und gerne vergessen würde. So wäre er vielleicht ein eher hoffnungsloses und mittelloses Glied der Emser Dynastie geworden, hätte nicht ein Wohltäter seine Begabung entdeckt und ihn ermutigt, sich ernsthaft dem Schreiben zu widmen.
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Wappen des Hugo I. von Montfort aus Scheiblers Wappenbuch |
Es scheint, dass Hugo I., Graf von Montfort (-1228), der einflussreichste Adelige der Region und ein großer Mäzen seiner Zeit, ihn unter seine Fittiche genommen hat. Dies geht aus einem Werk Rudolfs hervor, in dem er sich selbst als „ain knappe, der ist Ruodolf genant, ain dienest man ze Muntfort“ bezeichnet. Hugo I. beherrschte einen großen Teil Raetiens. Seine Residenz war die „Schattenburg“, ein neu erbautes Schloss in Feldkirch in der Nähe der Festung Hohenems. Hier diente höchstwahrscheinlich unser Knappe Rudolf in seinen Jugendjahren. Und dort vollendete er sein erstes Werk.
Dieses Epos, Der guote Gêrhart (vollendet um 1220), ist nicht nur sein erstes, sondern auch, aus heutiger Sicht, sein wertvollstes Werk. Es ist innovativ gestaltet und besteht aus einer Erzählung in der Erzählung. So etwas gab es in der zeitgenössischen Literatur noch nicht. Es ist auch der erste Roman, der den Lebensweg eines Bürgers schildert. Aus der Ich-Perspektive erzählt, war das in der deutschen Literatur bis dahin völlig unbekannt. Die Rahmenerzählung handelt von Kaiser Otto dem Großen, der sich als überheblich erweist und Gott herausfordert, ihn für seine "guten" Taten zu loben und zu belohnen. Daraufhin verweist Gott ihn an einen Kaufmann in Köln, den "guote Gêrhart", den er bitten soll, ihm von seinem Leben zu erzählen. Der Kaufmann stimmt zu und erweist sich in seinem Bericht als Mann von großer Tugend, vor allem aber von äußerster Bescheidenheit. Der Kaiser ist davon so beeindruckt, dass er Gott verspricht, sein Verhalten fortan zu ändern.
Wie alle Schriftwerke aus Rudolfs Zeit basiert auch dieses Werk auf Vorbildern. In diesem Fall gab es doch nur eine Vorlage aus Nordafrika, auf Arabisch, einer Sprache, die Rudolf nicht beherrschte. Der jüdische Gelehrte Rabbi Nissim Ben Jacob veröffentlichte sie um das Jahr 1000 unter dem Titel (in englischer Übersetzung) An Elegant Compilation concerning Relief after Adversity. Die Geschichte gelangte höchstwahrscheinlich über das maurische Spanien nach Europa und wurde in gelehrten Kreisen und an Höfen weitererzählt.
Der guote Gêrhart war schon zu seiner Zeit sehr beliebt, vor allem in Kreisen, die der Staufer-Dynastie nahestanden. Das Werk erschien nur wenige Jahre nach der Abdankung und dem Tod des Welfen-Gegenkaisers Otto IV. (1175-1218) und wurde von vielen als Kritik an seinem Charakter ausgelegt, nur lose getarnt als Tadel des sächsischen Kaisers Otto des Großen (912-973). Seine Beliebtheit sollte auch die Jahrhunderte übedauern. Von Zeit zu Zeit wurde es von Epigonen wiedererzählt und scheint noch heutzutage im Druck als frommes Märchen auf.
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Das Original und zwei Epigonen |
In der Fortsetzung zeigte Rudolf eine erstaunliche Schaffenskraft und Ausdauer. In nur dreißig Jahren schuf er fünf Großwerke mit insgesamt über 100.000 Verszeilen. Er war ein Vollzeitsautor und daher für seinen Lebensunterhalt vollständig auf großzügige Sponsoren angewiesen. Hugo I. von Montfort starb bereits 1228, doch Rudolf hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein weiteres bedeutendes Werk vollendet: eine fromme Fabel namens Barlaam und Josaphat, die auf Veranlassung des Abtes des Klosters Kappel bei Zürich entstand.
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Bild aus Barlaam und Josaphath Quelle: The Paul J. Getty Museum |
Durch beide Werke erweckte Rudolf die Aufmerksamkeit eines weiteren Mäzens, Konrad von Winterstetten, Reichsschenck des Römischen Reiches. Dieser Mann war nicht nur der "Arbiter Elegantiarum" des kaiserlichen Hofes und Aufseher der Erziehung der Prinzen (in der Zeit des Stauferkaisers Friedrich II. [1194-1250]), sondern zeitweise auch Verweser des Königreichs Deutschland und des Herzogtums Schwaben.
Rudolf dürfte um 1228 in die Dienste des mächtigen Reichsschenks getreten sein, gerade als König Heinrich (1211-1242), der älteste Sohn Kaiser Friedrichs, volljährig wurde. Später könnte es sogar der König selbst gewesen sein, der den Autor beauftragte, ein Epos über das Leben Alexanders des Großen zu verfassen. Dies war ein großes Vorhaben, das Rudolf mit Begeisterung verfolgte. Leider wurde es nie vollendet, was höchstwahrscheinlich auf die Entthronung und Inhaftierung des Königs durch seinen Vater im Jahr 1235 zurückzuführen ist.
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Aufschlag aus Alexander Quelle: Bayerische Staatsbibliothek |
Der Reichsschenk war mächtig genug, um trotz der plötzlichen Entthronung des Königs in kaiserlichen Diensten zu bleiben, und beauftragte Rudolf selbst mit einem weiteren Epos, dem Willehalm von Orlens. Diese Erzählung, die sich an französischen Vorbildern orientierte, diente möglicherweise der moralischen Erziehung von Friedrichs zweitem Sohn Konrad IV. (1228-54), der 1237 im Alter von nur neun Jahren zum deutschen König gekrönt wurde. Das Werk wurde sehr berühmt und viel gelesen – wie die Zahl der erhaltenen Pergament-Exemplare zeigt – und muss ihn beim König beliebt gemacht haben. In Abwesenheit seines leiblichen Vaters, der sich die meiste Zeit in Sizilien aufhielt, könnte der König begonnen haben, in Rudolf eine Art Vaterfigur zu sehen.
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Der jung König Konrad IV. Quelle: Unbekannt |
Konrad hatte es in seiner Jugend nicht leicht, denn nicht nur ein, sondern gleich zwei Königsanwärter stellten seine Herrschaft in Frage. Zeitweise musste er sich sogar in sein Herzogtum in Schwaben zurückziehen, als letzte Bastion gegen die Heere seiner Kontrahenten. Um sich zu trösten und zum Durchhalten anzuspornen, beauftragte er wohl Rudolf mit seinem bei weitem bedeutendsten Werk, einer Weltgeschichte in Reimform, der Weltchronik! Der unermüdliche Dichter stürzte sich in die Arbeit und schaffte es gegen Ende der 1240er Jahre, die Geschichte bis zu König Salomon dem Großen fortzuführen.
Aber auch diese Arbeit wurde 1251 jäh abgebrochen. Konrad unternahm nach dem Tod seines Vaters einen Heerzug nach Italien, um seine Stellung als König von Sizilien zu behaupten. Offensichtlich brauchte Konrad seinen geistlichen Vater an seiner Seite, denn Rudolf musste ihn – trotz seines für damalige Verhältnisse hohen Alters – auf diesem Feldzug begleiten. Doch leider war ihnen das Glück nicht hold. Beide erlagen 1254 mit dem Großteil des königlichen Heeres bei Neapel dem Lagerfieber.
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Schließen wir diese Geschichte eines bemerkenswerten mittelalterlichen Künstlers mit einem Blick auf zwei Seiten aus seiner Weltchronik ab. Sie handeln von Noah und dem Neubeginn, der der Welt nach der Sintflut bevorstand. Im Anschluss dazu wird im nächsten Abschnitt eine im Gegensatz zur Sintflut wohldokumentierte Naturkatastrophe den Lauf der Geschichte in ähnlicher Weise entscheidend beeinflussen.
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Seite aus Weltchronik Quelle: Bibliothèque de la ville de Colmar |
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