GOTTES VORKÄMPFER

Drei Brüder Ems saßen – sehr zufrieden – auf dem Dach der Welt, besser gesagt dem eines gewaltigen Doms. Es war der 1. Mai. Kurz vorher hatten wir ein Treffen mit einem alten Verwandten der Emser. Zum Händeschütteln hat es zwar nicht gereicht, aber immerhin konnten wir ihn begrüßen und bewundern. Danach eine kleine Pause, um sich an diesem sonnigen Tag in Mailand zu entspannen, bevor es zum Sightseeing ging!

Noch am Nachmittag zuvor waren wir auf der Autobahn in Richtung Mailand unterwegs gewesen, hatten den Comer See zügig passiert und waren bald im weiten Becken des Po in der Lombardei gelandet. Im Großen und Ganzen folgten wir der Route, die fast 800 Jahre lang von vielen deutschen Königen benutzt wurde. Diese Herrscher reisten mit großem Gefolge und Pomp, um sich in Pavia mit der Eisernen Krone zum König von Italien krönen zu lassen und anschließend in Rom vom Papst zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Es kam aber auch vor, dass sie mit einem großen Heer drohend nach Süden zogen, um ihren Anspruch auf die Herrschaft über die italienischen Städte geltend zu machen. Schließlich nutzten die Kaiser Italien auch als verlängerten Kriegsschauplatz für ihren sechzigjährigen Zweikampf mit den französischen Königen.

Während die alten Herrscher für diese Strecke Wochen brauchten, hatte uns Bruder Ludwig in wenigen Stunden zum äußeren Ring von Mailand gelenkt, der, wie man sich denken kann, den Spuren der alten Stadtmauer folgt. Dann ließ er den Wagen vierzig Minuten lang auf diesem Ring laufen, bis er plötzlich nach links abbog, um unser Hotel im Stadtzentrum zu erreichen.

Plan der Stadt Mailand
in Braun & Hogenberg (1593), Civitates orbis terrarum
Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg

Am nächsten Morgen zogen wir früh los, um die Pracht dieser großen Stadt zu erleben. Schließlich ist Mailand eine der großen europäischen Metropolen mit rund fünf Millionen Einwohnern und die italienische Hochburg für Handel, Industrie, Wissenschaft und Kunst, nicht zu vergessen die Haute Couture. Darüber hinaus war Mailand einst die Hauptstadt des Weströmischen Reiches und in jüngerer Zeit des Herzogtums Lombardei. Als letztere war sie eines der Hauptziele der sechzigjährigen Italienischen Kriege, auf die wir immer wieder zurückkommen (siehe z. B. Quem Dei Diligunt)

Aber genug der Lobeshymnen! Da wir nicht mehr die Jüngsten sind und nicht mehr so begierig darauf, alles zu sehen und zu erleben, dachten wir uns, dass die Piazza del Duomo sowohl ein guter Start- als auch Endpunkt für unsere Besichtigungstour wäre. Also machten wir uns auf den Weg dorthin.

Ich war noch nie in Mailand gewesen und wusste nicht, was mich erwarten würde.  Doch als wir in der Zufahrtstrasse um eine Ecke bogen, öffnete sich vor uns die überwäldigende Weite der Piazza, und ich musste fünf Minuten innehalten, um alles in den Griff zu bekommen. Im Hintergrund breitete ein gewaltiges gotisches Bauwerk seine Flügel aus, als wolle es uns drei bescheidene Besucher, die im Vergleich dazu klein wie Mäuse waren, willkommen heißen. Wir standen vor der größten gotischen Kathedrale der Welt. Doch ihre anmutige Fassade voller Verziehrungen täuschte über ihre Größe hinweg; sie wirkte wie ein Wunder, über das man nur staunen konnte.

Der Leser wird sich vielleicht daran erinnern, dass es in der Antike eine Liste der sieben Weltwunder gab. Ich glaube, dass man auch für unsere Zeit versucht hat, eine ähnliche Liste zu erstellen. Wenn dem so ist, dann muss man dieses Wunder von einem Gotteshaus sicher dazuzählen. Es ist das letzte Beispiel der großen gotischen Architektur des Mittelalters, im Gegensatz zu Nôtre Dame de Paris, das eines der ersten ist. Und das ist nicht zu übersehen. Verglichen mit Nôtre Dame, die mir wie eine alte Jungfer in Trauerkleidung vorkommt, gleicht der Mailänder Dom eher einer wohlgerundeten Dame im Spitzenhäubchen. Es hat fast 600 Jahre gedauert, bis diese wundervolle Kathedrale fertiggestellt wurde, beginnend im Jahr 1386, aber die außerordentlichen Baukosten und Bauzeit haben sich gelohnt.

Meine Bewunderung für dieses imposante Bauwerk wird von einem berühmten amerikanischen Schriftsteller geteilt, der sie viel besser zum Ausdruck bringen kann als ich: "What a wonder it is! So grand, so solemn, so vast! And yet so delicate, so airy, so graceful! A very world of solid weight, and yet it seems in the soft moonlight only a fairy delusion of frostwork that might vanish with a breath! ... It was a vision! – a miracle! – an anthem sung in stone, a poem wrought in marble!" (Mark Twain)

Ob wir es wagen würden, uns diesem ehrwürdigen Bauwerk zu nähern und es zu betreten? Jawohl, und Bruder Ludwig eilte zu einem Nebengebäude, um uns Eintrittskarten zu besorgen, denn wir waren bei weitem nicht die Einzigen, die dieses Wunderwerk besichtigen wollten. Während wir fast 15 Minuten warten mussten, bis unser Bruder wieder auftauchte, hatten wir Gelegenheit, einige Details der Fassade zu studieren, die vollständig mit weißem bis hellgelbem Candoglia-Marmor verkleidet war. Mit Erstaunen stellten wir fest, dass das, was aus der Ferne wie filigrane Verzierungen aussah, in Wirklichkeit große Statuen waren, die die Säulen und Wände schmückten – Tausende !

Ludwig kam mit den Eintrittskarten zurück und wir betraten diesen heiligen Ort. Es würde mehrere Kapitel erfordern, um all die beeindruckenden Anblicke zu beschreiben, die wir dort genießen durften. Aber wir hatten ein besonderes Ziel für unseren Besuch, deshalb möchte ich mich auf eine Besonderheit der Kirche konzentrieren. In der Mitte der Kathedrale gibt es eine Reihe von Monumenten, jedes etwa drei Meter hoch, mit Fenstern am Boden und einer kleinen Tür in der Mitte. Das machte mich neugierig, also ging ich zu einem der Fenster und schaute hinein.

Was für ein Anblick! Ich sah einen kleinen Raum, wie eine Kapelle, in dem schmale Säulen einen altarähnlichen Schrein umgaben, der im Halbdunkel glänzte. Es musste einer der vielen Reliquienschreine sein, die in der Kathedrale verehrt werden. Schließlich ist der Dom nur das jüngste Glied in einer ununterbrochenen Kette von Gotteshäusern, die bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen und immer wieder mit Reliquien "angereichert" wurden. 

Ich war gerade im Begriff, dieses ehrwürdige Gehäuse zu betreten, als Bruder Ludwig uns auf eine andere Pforte hinwies, vor der eine lange Schlange von Besuchern wartete. Wir reihten uns ein und durften nach einigen Minuten Wartezeit einen Vorraum mit vergittertem Eingang zur Kapelle betreten. Leider wurde uns der Zugang zur Hauptkammer verwehrt, so dass wir nur auf Zehenspitzen durch das Gitter in die Kapelle hineinschauen konnten.

Darin ruhte ein Sarkophag, aber kein gewöhnlicher! Seine Wände bestanden aus reinem Bergkristall, so dass wir einen mumifizierten Körper erblicken konnten, der wie auf "lit-de-parade ruhte".  Eigentlich war der Sarg zu weit entfernt, um Details zu erkennen, aber mit dem Teleobjektiv der Kamera und der Bearbeitung in Photoshop können wir auf dem beigefügten Bild einen annehmbaren Eindruck vom Inhalt gewinnen. Das Gesicht der Mumie war mit einer silbernen Maske bedeckt, der Körper mit einem Bischofsgewand bekleidet, und die ganze Gestalt schien von innen beleuchtet zu sein.


Leichnam eines großen Heiligen

Jetzt wurde mir klar, warum Ludwig uns in dieses Denkmal gelockt hatte. In dieser Kapelle liegt Kardinal Carlo Borromeo (1538-84) begraben, der Cousin von Jakob Hannibal I. und Merk Sittich III. von Hohenems, auch Schwager des letzteren! Und nicht nur das: Er zählt zu den bedeutendsten katholischen Heiligen der Neuzeit! Wie bereits erwähnt (Himmlische Gönnung), hatte Papst Pius IV. vier junge Neffen zu sich berufen, um ihm bei der Leitung des Kirchenstaates zu helfen. Einer von ihnen wurde ein berühmter Kriegsherr, ein anderer der Begründer einer unermesslich reichen Herzogsdynastie, und Carlo wird noch heute als großer Heiliger verehrt!

-o-

Als wir das Denkmal verließen, begannen meine Gedanken zu wandern. Wie kam es, dass Kardinal Borromäus ein hochverehrter Heiliger wurde, während Kardinal Merk Sittich III. bei den Gläubigen keinerlei Eindruck hinterließ? Um dies zu ermitteln, müssen wir uns mit drei Kernfragen auseinandersetzen: Was verstehen wir unter einem "Heiligen"? Was braucht es, um einer zu werden? Und was hat im Leben und Nachleben von Carlo Borromeo dazu geführt, dass er die Voraussetzungen für die Heiligsprechung erfüllte?

Lassen Sie mich versuchen, die ersten beiden Fragen nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Ich bin zwar Agnostiker, verfüge aber über gewisse Grundkenntnisse im Kirchenrecht (die ich mir in meiner Jugend an der Universität Wien angeeignet habe). Zur ersten Frage: Ein Heiliger ist ein Mensch, der nach seinem Ableben der Dreifaltigkeit besonders nahe steht. Die Kirche hat festgelegt, dass einem solchen Menschen besondere Gnaden zuteil werden, vor allem dass er als Fürsprecher für die Anliegen anderer Menschen vor Gott eintreten kann. Ein solches Anliegen wird von Gott eher gehört und erhört, wenn man sich nicht nur direkt an Gott, sondern auch an einen Heiligen als Fürsprecher wendet. Ein typisches Beispiel ist ein unheilbar Kranker, der einen Schutzheiligen bittet, für ihn bei Gott vorzusprechen, damit er doch noch geheilt wird.

Nun zur zweiten Frage: Wie kann die Kirche feststellen, ob ein Mensch nach seinem Tod in eine solche Nähe zu Gott getreten ist? Ein frommes Leben kann ein Indiz sein, aber das reicht der Kirche nicht aus. Stattdessen hat der Heilige Stuhl ein strenges juristisches Verfahren eingeführt, um sein Urteil zu fällen. In diesem Prozess kommen nur Kandidaten in Frage, für die nach ihrem Tod greifbare Beweise erbracht werden können, dass sie vor Gott ein Fürsprecher sind. Dafür sind mindestens zwei nachgewiesene Mirakel erforderlich.

Carlo Borromeos Kanonisering 1610
Künstler: Giovanni Maggi   Quelle: Biblioteka Angelica C2/11

Wenn zum Beispiel ein Todkranker, nachdem er eine Person (die er als heilig ansieht) um Fürsprache bei Gott gebeten hat, spontan geheilt wird, wird dieser Vorfall von der Kirche untersucht. Das Gremium dafür im Vatikan ist die Congregatio de Causis Sanctorum. Diese Kongregation wird untersuchen, erstens ob das wundersame Ereignis direkt mit einer an den Kandidaten gerichteten Bitte um Fürsprache verbunden ist, und zweitens, dass keine natürlichen Ursachen zu dem wundersamen Ergebnis geführt haben könnten. In diesem Zusammenhang ist es die Aufgabe eines dafür ernannten "Advocatus Diaboli", alles in seiner Macht Stehende zu tun, um diesbezügliche Behauptungen zu widerlegen. Fällt schliesslich das Urteil über dieses und ein weiteres Wunder positiv aus, so obliegt es dem Papst, den Kandidaten durch ein unanfechtbares Dekret zu kanonisieren (heilig zu sprechen).

Um die dritte Frage zu beantworten, müssen wir uns kurz mit dem Leben und Wirken von Carlo Borromeo befassen. Das ist nicht leicht, da die zugänglichen Quellen dazu hauptsächlich als Hagiographien im Nachhinein verfasst wurden, um die Heiligsprechung dieses frommen Kardinals zu betonen. Deswegen muss ich mich in meiner Interpretation auf die raren unbestreitbaren Fakten seines Lebens stützen.

Carlo war adeliger Abstammung als zweiter Sohn von Gilberto Borromeo, Graf von Arona (einer Herrschaft in der Lombardei in der Nähe von Mailand). Seine Mutter war eine geborene Margherita Medici di Marignano. Damit war Carlo mütterlicherseits ein Cousin von Jakob Hannibal I. und Merk Sittich III. von Hohenems. Als Zweitgeborener war er von vornherein für eine geistliche Laufbahn bestimmt. Nachdem er zunächst in einem Internat Latein und Rhetorik gelernt hatte, inskribierte er an der Universität von Pavia schon im Alter von 16 Jahren. Wegen eines leichten Sprachfehlers und seiner introvertierten Persönlichkeit war er im Internat möglicherweise dem Spott seiner Mitschüler ausgesetzt. Es gibt auch Hinweise auf Misshandlungen durch Lehrer, die so umgedeutet werden, dass er sich geweigert haben soll, von zwei Lehrern unterrichtet zu werden, die er für zu weltlich hielt. Offensichtlich überwand er all diese Hindernisse, studierte fleißig und ausdauernd und erwarb bereits 1559 (im Alter von 20 Jahren) ein doppeltes Doktorat in Zivil- und Kirchenrecht.

Die Universität von Pavia   Photograph: Giovanni Tagini

Meiner Meinung nach hat er bereits in seiner Kindheit und Jugend einen Charakter entwickelt, der ihm in den kommenden Jahren gute Dienste leisten sollte: ein ausgeprägtes Zielbewusstsein, ein hohes Maß an Unabhängigkeit und einen fest verankerten moralischen Kompass. Was letzteren betrifft, so war er offenbar davon überzeugt, dass nur reiner Glaube wahrer Glaube ist. Die Reinheit des Glaubens und der Sitten sollte vor allem die Diener Gottes auszeichnen, denen es anvertraut war, den Gläubigen die ewigen Wahrheiten zu vermitteln. Unter normalen Umständen hätte er als Ketzer enden können, gefährlich für die Kirche in diesen turbulenten Zeiten des Wandels. Doch das Schicksal meinte es gut mit ihm: Im selben Jahr, in dem er promovierte, wurde sein Onkel Papst. Unter der Schirmherrschaft von Pius IV. konnte er seine beachtlichen Talente voll entfalten. Als Organisator, Reformator und Mäzen wurde er zu einem herausragenden Diener der Kirche.

Pius IV. erhob ihn schon 1560 zu hohem Rang im Kirchenstaat. Er erhielt das Amt des Staatssekretärs und wurde zum Kardinal ernannt. In kurzer Zeit brachte er die päpstliche Verwaltung in Ordnung, doch das genügte dem energischen Geistlichen nicht. Bald konnte er Pius IV. davon überzeugen, das totgeglaubte Konzil von Trient wiederzubeleben, und unter seinem maßgeblichen Einfluss konnte dieses bahnbrechende Konzil bereits 1563 erfolgreich beendet werden.

Vor allem überzeugte er das Konzil (siehe auch Himmlische Protektion) dass die im Konzil neu formulierten und verdeutlichten Wahrheitsartikeln des Katholizismus in einer pädagogischen Lehrschrift zu veröffentlichen seien. Diese Schrift, Römischer Katechismus genannt, wurde in der Folge unter der Leitung von Carlo erstellt und erwies sich sofort als Hauptmittel zur Ausbildung und Erneuerung des katholischen Klerus. Der Katholizismus wurde durch diese Reform der Kirchendiener wiederbelebt und als wirksamme Bastion gegen die "Reformation" in Europa gefestigt (die letztere war eher eine Revolution, da sie die päpstliche Autorität abschaffte).

Ein junger Kardinal und Reformator
Maler und Quelle: unbekannt

Kurz darauf (1564) wurde Carlo Borromeo zum Erzbischof von Mailand geweiht, musste aber noch zwei Jahre im päpstlichen Dienst bleiben. Danach widmete er sich ganz der Umsetzung des Römischen Katechismus und anderer Beschlüsse des Konzils von Trient in seiner Diözese. Darüber hinaus wurde er dreimal vom Papst gebeten, das Alpenrheingebiet und die katholischen Kantone der Eidgenossen zu besuchen, um dort die vom Konzil verurteilten religiösen Missstände zu beseitigen.

Bei all diesen Vorhaben war er äußerst hartnäckig und direkt, manchmal sogar rücksichtslos in seinem Eingreifen. Er folgte stets bedingungslos seinem moralischen Kompass und ignorierte alle Bitten um eine mildere Umsetzung seiner Anweisungen. Dies brachte ihn immer wieder in Konflikt mit den regionalen und spanischen Zivilbehörden, da er in allen Angelegenheiten, die direkt oder indirekt den Glauben und die Sitten der Gläubigen betrafen, den Vorrang beanspruchte. Die Mailänder Gouverneure beschwerten sich häufig beim spanischen König und beim Papst. Diese stellten sich jedoch stets auf die Seite des Erzbischofs, auch wenn sie ihn diskret zur Nachsicht ermahnten.

Einige katholische Orden in seiner Diözese, die sich bisher wenig um die bischöfliche Autorität gekümmert hatten, wehrten sich vehement gegen die Reformen des neuen Kirchenoberhaupts. Mit ihnen machte er kurzen Prozess und exkommunizierte sie umgehend, was sie jedoch nicht gerade gefügig machte. Die Auseinandersetzungen spitzten sich so zu, dass zwei Mordanschläge auf ihn verübt wurden. Der zweite, im Oktober 1569, war besonders schwer: Während er in der Kapelle der erzbischöflichen Residenz betete, wurde ihm in den Rücken geschossen. Die schweren Seidengewänder des Bischofs wirkten wie ein Schutzschild, so dass er weitgehend unverletzt blieb und sein Gebet, wenn auch unter Schmerzen, fortsetzen konnte.

Ein missglücktes Attentat
Fresko in Chiesa di St. Carlo Borromeo, Ferrara
Maler: Antonio Bonfanti detto Torricella

Dieses Ereignis markierte einen Wendepunkt in seinen Beziehungen zu den Einwohnern Mailands und seiner Diözese (im Wesentlichen die Lombardei und einige Täler Südtirols). In der Bevölkerung verbreitete sich die Vorstellung, dass die „wundersame“ Rettung des Erzbischofs ein Zeichen dafür sei, dass er von Gottes Gnaden gesegnet sei, dass seine harten Dekrete vom Schöpfer selbst kommen könnten und daher zu akzeptieren seien.

Doch die größte Herausforderung stand ihm noch bevor. Diesmal waren es die Naturgewalten. Zuerst kam eine Hungersnot zu Beginn der 1570er Jahre. Dann zog der Schwarze Tod in den Jahren 1576-1578 eine breite Schneise des Unheils durch Norditalien. Mailand lag mitten in dieser Todeszone. Als die Pest ausbrach, flohen Adel und Verwaltung aus der Stadt, um nicht von ihr heimgesucht zu werden. Nicht so der Erzbischof, der es sich zur Aufgabe machte, zusammen mit dem ihm unterstellten Klerus den Kranken und Sterbenden nach Kräften beizustehen. Der Erzbischof wurde in den Pestjahren zum eigentlichen Regenten Mailands und sorgte für ein Mindestmaß an Ordnung in einer Stadt, die sonst im Chaos versunken wäre.

Als die Menschen wie die Fliegen starben und sich die Leichen auf den Straßen häuften, erforderte die Aufrechterhaltung der Ordnung fast übermenschliche Kräfte. Dem strengen und willensstarken Erzbischof gelang es, die Lage unter Kontrolle zu halten, wenn auch nur knapp. Er musste sogar Geistliche außerhalb Mailands um Hilfe bitten, und er bekam sie aus der ganzen Diözese, sogar aus den Tälern Südtirols. Es waren die treuesten Kleriker, die nach Mailand eilten, sie hatten sich die Vorstellungen des Reformators von einer reinen, wurzelgetreuen katholischen Kirche zu eigen gemacht.

Die Pest in Mailand
Künstler: Frederico Moja
in Manzoni (1842), Promesso sposi

Mit Hilfe des Klerus organisierte er eine beispiellose Reihe von Hilfsaktionen. Mit eigenen Mitteln, vor allem aus seiner Privatschatulle, finanzierte der Erzbischof die Versorgung mit Lebensmitteln, um die Hungersnot zu lindern. Dazu musste er sich privat in erheblichem Umfang verschulden. So wurden in der Hauptpestzeit täglich bis zu 60.000 Arme aus seiner Kasse versorgt. Die Kranken wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben. Im Gegenzug wurden die Kirchen geschlossen und stattdessen auf den öffentlichen Plätzen Altäre errichtet. Dort wurden täglich Messen gefeiert, um den Kranken, die vom Fenster aus zuschauen konnten, Trost zu spenden und die (noch) nicht Erkrankten zu ermutigen.

Mindestens viermal leitete der Erzbischof selbst eine große Prozession durch die Straßen Mailands. Vor dem Dom stellte er sich auf, in einer einfachen, mit Asche bestreuten Mönchskutte, mit einem Strick um den Hals und einem riesigen, schweren Holzkreuz an der Seite, und flehte Gott an, er möge ihm das Leben nehmen, anstatt die Bürger Mailands zu Tode zu quälen. Dann schulterte er das Kreuz, eine Reliquie mit einem Nagel des Kreuzes Jesu, und schleppte es mühsam und langsam durch Mailand, gefolgt von allen noch aufrecht stehenden Einwohnern und angefeuert von lauten Gebetsgesängen, in die alle mit einstimmten, auch die Kranken, die aus ihren Fenstern blickten. Es war, als ob die Stadt selbst in den Gesang einstimmte und Gott anflehte, Mailand von der Pest zu befreien.

Der Erzbischof in Prozession
Künstler: Franceschini   Quelle: Wellcome Collection

Dies war vielleicht nicht die effizienteste Art, mit einer Pandemie umzugehen. Aber wir dürfen die Dinge nicht aus heutiger Sicht betrachten; die Medizin hatte damals wenig über die Ursachen der Pest und ihre Bekämpfung zu sagen. Und da die Bevölkerung dank des Eingreifens der Kirche einigermaßen ernährt wurde und die Kranken isoliert blieben, könnte dies tatsächlich der Grund dafür gewesen sein, dass Mailand unter den norditalienischen Städten am wenigsten von der Krankheit betroffen war. Außerdem glaubte man damals allgemein, dass die Seuche – mangels medizinischer Beweise – eine Strafe Gottes für die Sünden der Menschen sei. Vor diesem Hintergrund muss das energische Eingreifen des Erzbischofs mit seinen Appellen an Gott, die Stadt von der Pest zu befreien, großen Einfluss auf die Moral der Mailänder gehabt und so zur Linderung der Seuche beigetragen haben.

Der Erzbischof überlebte das Ende der Pest nur um sechs Jahre. Zu diesem Zeitpunkt war sein Ruf als Auserwählter Gottes bereits fest verankert. Schon vor seinem Ableben wussten die Mailänder von Wundern zu berichten. Bei seinem frühen Tod 1584 betrachteten sie ihn bereits als ihren besonderen Schutzpatron, ohne dass es einer kirchlichen Sanktion bedurfte. Wunder über Wunder ereigneten sich, gar Hunderte pro Jahr, und bald reagierte auch die Kirche. In Rekordzeit wurde der Heiligsprechungsprozess eingeleitet und Papst Paul V. erklärte ihn bereits 1610 zum Heiligen, nur 25 Jahre nach seinem Tod. Eine wahrhaft historische Persönlichkeit!

-o-

Ich war so in Gedanken an Sanctus Carolus Borromaeus versunken, dass ich kaum bemerkte, wie Bruder Ludwig uns durch das Hauptportal der Kathedrale zu einem Seiteneingang führte, von wo aus uns ein Aufzug gen Himmel beförderte, als wolle er die Heiligkeit des Kardinals unterstreichen. Oben angekommen, riss ich die Augen auf: Ein großer, offener Platz erwartete uns in luftiger Höhe, fast wie ein zentraler Stadtplatz, umgeben von gotischen Türmen und Statuen.

Es war das Dach der majestätischen Kathedrale und erst jetzt konnten wir die Dimensionen dieses Bauwunders richtig erfassen. Nach einigen Minuten des stillen Staunens beschlossen wir, diesen gewaltigen Überbau zu erkunden. So begann ein anstrengender Rundgang, Treppen hinauf, Treppen hinunter, eine gute Stunde lang, bis wir wieder am Ausgangspunkt angelangt waren. Auf halbem Weg entstand das Titelbild, als wir zu einer wohlverdienten Pause anhielten und die Jungfrau Maria bewundern konnten, die in goldenem Glanz über allem thronte und mit einem sanften Lächeln auf uns herabblickte.

Schließlich war es Zeit, den Dom zu verlassen. Erschöpft von all den Erlebnissen und Übungen waren wir froh, ein nettes Café vor dem Palazzo de Carminati, auf der Westseite der Piazza del Duomo, zu finden. Omeletts wurde genossen, Spumante gekippt und das Ganze mit echtem Espresso abgerundet. Dabei beobachteten wir das Kommen und Gehen der unzähligen Touristen, die den Domplatz und die massive Kathedrale bestaunten. Die Hitze des Tages ließ langsam nach, als die Sonne hinter uns unterging und den cremeweißen Dom allmählich in ein rosiges Licht tauchte.

                                 -o-

Während ich über längst verblichene Geschichten von Heiligen, Synoden und Päpsten grübelte, wurde ich plötzlich durch eine eher irdische Bemerkung von Bruder Richard unterbrochen. Er wunderte sich, dass auf der Piazza keine schlanken Mädchen in eleganten Stöckelschuhen mit schwingenden Hüften zu sehen waren. Ich machte ihm leise Vorwürfe wegen seines altmodischen Machismo und antwortete ihm, dass ich selbst wohlgerundete Hüften bevorziehe, die sich sanft drehen und von bequemen Halbschuhen getragen werden, heutzutage sogar von Sneakers, dem letzten Schrei unter den Schuhen. So endete dieser glorreiche Tag voller spiritueller Erfahrungen mit einem freundlichen brüderlichen Geplänkel, das uns in die pragmatische Gegenwart zurückversetzte und uns dort wieder fest verankerte!

Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

ERLAUCHTER GLANZ

FORTES FORTUNA ADIUVAT

HIMMLISCHES GÖNNEN