WO ALLES BEGANN


In der Chaplutta Sogn Pieder

Drei Ems-Brüder haben sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben, zurück in das Jahr 800 n. Chr. Unser Herrscher Carolus, Rex Francorum, wird gerade in Rom zum Imperator gekrönt. Wir befinden uns in einer neu erbauten kleinen Kirche, oder "chaplutta", wie sie unser monstrator (Führer) nennt. Sie steht auf einer Anhöhe mit Blick auf den Rhenus Alpense (Alpenrhein), etwa 2,7 milliarii (4 km) flussaufwärts von Curia Raetorum (Chur). Der monstrator erklärt uns das alles auf Latein, allerdings in einem sehr eigenartigen Dialekt, den ich kaum verstehe, obwohl ich die Sprache seit meiner Studienzeit in Vindobona fließend beherrsche.

Nur 35 Jahre zuvor, so erzählt er uns, saß ein monachus (Mönch) im scriptorium der residentia Episcopi Tellonis (des Bischofs Tello) in Curia Raetorum, spitzte sorgfältig seine Gänsefeder, tauchte sie in ein kleines Fässchen mit Tinte aus Gallnuss, Vitriol und Wein und schrieb in mühsamer Kleinarbeit einen Namen mit fünf Buchstaben auf ein Pergament, auf dem schon viele Besitztümer verzeichnet waren. Bald wird uns der monstrator eine Kopie dieses Pergaments zeigen, die er aus der Schatzkiste der chaplutta holt, und ...

... Wusch! Mit einem lauten Knall katapultiert uns die Zeitmaschine zurück in die Gegenwart. Plötzlich ist es der Morgen des 29. April 2019 und wir drei Brüder sind gerade den Alpenrhein aufwärts nach Domat/Ems in Graubünden gefahren. Unsere Aufgabe war die Suche nach dem Ursprung unseres Familiennamens. Wir waren um 10 Uhr mit einem Führer am Bahnhof verabredet, kamen aber etwas zu früh an. Meine Brüder tranken Kaffee im Bahnhofscafé, während ich draußen die Ankunft des 10-Uhr-Zuges erwartete.

Als ich durch den Bahnhof schlenderte, entdeckte ich plötzlich einen einsamen Herrn, der in einiger Entfernung stand. Es stellte sich heraus, dass es sich um unseren Führer handelte, der ja in der Stadt wohnte; er war Lehrer an der örtlichen Schule und hatte den Bahnhof nur als günstigen Treffpunkt gewählt.

Ein einsamer Führer wartet

Bald machten wir uns bekannt, und ich rannte los, um meine Brüder zu holen. Auf dem Bild sind sie mit dem Führer vor dem Bahnhof zu sehen. Die dunkle Hautfarbe des letzteren verriet seine Herkunft. Er war ein echter Rätoromane, und die Leute in der Region ähnelten ihm wahrscheinlich schon vor 2000 Jahren, als Räthien in das Römische Reich eingegliedert wurde. Er hatte sogar Romansch als Muttersprache, eine Art Vulgärlatein, das seit zwei Jahrtausenden in der Region gesprochen wird!

Die Führung kann beginnen

Wie er erklärt, ist das Wort "Domat" die romansche Version des Ortsnamens. Sie soll sich von einem alten keltischen Wort ableiten, das in der rätoromanischen Vorzeit zu Amisa oder Ami[e]des wurde und nach Ansicht von Experten "Flussgabelung" bedeutet. "Ems" ist die Version des Namens, die von den deutschsprachigen Einwohnern, die heute die Mehrheit bilden, verwendet wird. Seltsamerweise hat diese Version denselben Wortstamm wie die romansche. 

Sogleich machten wir uns auf den Weg zu einem großen Hügel in der Ferne, den der Reiseführer "Tuma Casti" (Burgberg) nannte. Im Ort Ems gibt es zwölf solcher Tumas, die wie Warzen aus der Schwemmebene des Rheins herausragen. Der Führer versicherte uns, dass der Aufstieg leicht sei, und so näherten wir uns zuversichtlich dem Hügel. Doch recht mühselig erreichten wir schließlich eine kleine Kapelle am Südosthang, der wir uns mit Ehrfurcht näherten, denn sie ist mehr als eintausendzweihundert Jahre alt! Wir waren in der Chaplutta Sogn Pieder (Peterskapelle) angekommen, die wir schon auf unserer Zeitreise bewundert hatten. Sie ist zwar klein, beeindruckte uns aber durch ihr ehrwürdiges Alter und ihre schlichte Eleganz.

Die Chaplutta Sogn Pieder – schon seit 800 n. Chr.

Unser Führer erklärte, dass es sich um den ältesten noch erhaltenen Sakralbaut am Alpenrhein handelt. Bei Ausgrabungen wurden an diesem Hügel Siedlungen schon aus der Bronzezeit (um 1100 v. Chr.) entdeckt. Hier siedelten die ersten Menschen auf den Höhen über der Schwemmebene, direkt unterhalb des Zusammenflusses von Vorder- und Hinterrhein. Doch damit nicht genug: Eine Urkunde aus dem Jahr 765, eine der ältesten der Schweiz und sicher die älteste im Alpenrheingebiet, erwähnt mit Namen den Platz, auf dem die Kapelle steht.

Dieses Dokument ist so alt, dass das Original verloren gegangen ist. Zum Glück existieren noch drei Abschriften. Man könnte meinen, dass das Kloster Disentis sehr darauf bedacht war, das Original zu erhalten, da es der Hauptnutznießer war. Leider brannten die Sarazenen bei einem Überfall auf den Alpenrhein im Jahre 940 n. Chr. das Kloster und mit ihm alle Originaldokumente nieder. 

Der Führer war stolz darauf, einen Auszug aus dieser alten Urkunde wenigstens als Kopie vorzeigen zu können. Ihr Urheber ist Bischof Tello von Chur, der letzte der berühmten viktorinischen Bischöfe und Herrscher der Raetia Curiensis (Und immer fließt der Rhein). Es handelt sich um eine Schenkung mehrerer bischöflicher Güter in der Umgebung von Chur an das Kloster Disentis, die erst nach dem Tod Tellos wirksam wurde. Bei einigen der geschenkten Eigendümern ist auch ein kleines Lehen für die dort angestellten Verwalter zu deren Unterhalt vorbehalten.

Schauen wir uns nun den Auszug genauer an. Natürlich wird es für die Leser kein Problem sein, den Text zu verstehen. Aber für den Fall, dass sie mit dem altertümlichen und sperrigen Schreibstil nicht vertraut sind, erlaube ich mir, meine eigene holprige Übersetzung aus dem Lateinischen vorzustellen: 

Auszug aus Bischof Tellos Testament von 765 n. Chr.

"Ebenso kann dieser Maiorinus den Hof, den er in Amedes besitzt, als Lehen unter dem Kloster [von Disentis] für seinen Gebrauch und den Unterhalt seiner Frau und seiner Söhne behalten. Sollte derselbe [Maiorinus] auf dieses Lehen verzichten wollen, so soll dieser Besitz für immer beim Kloster [von Disentis] verbleiben und von niemandem abgetrennt werden."

Hier taucht also zum ersten Mal der Name Ems (in seiner alten rätoromanischen Version Ami[e]des) schriftlich auf! Zumindest in der Alpenrheinregion. Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor dieser einzigartigen Botschaft aus der Vergangenheit.

Nicht nur das! Am Ende des Dokumentes, das heutzutage als "Bischof Tellos Testament"  bekannt und berühmt ist, sind einige Zeugen namentlich angegeben. Einer davon trägt den Namen Lobucio de Amedes und ist somit der erste Represenant unseres Namens, der urkundlich aufscheint. Er war einer der Curiales, damit Mitglied des fürstbischoflichen Rates und zählte so zu den bedeutenden Persönlichkeiten in Raetia Curiensis. 

Langsam mussten wir uns von diesem heiligen Ort verabschieden. Doch in der Nähe der Kapelle fanden wir ein weiteres faszinierendes Relikt, die Überreste eines Kellers aus vergangenen Zeiten. Wir fragten uns, was für ein Gebäude dort gestanden haben könnte. Der Führer vermutete eine Kaserne aus nachrömischer Zeit. Ich persönlich glaube, dass es sich um die Überreste eines Refektoriums handeln muss, das an die Kapelle angrenzte und gleichzeitig mit ihr erbaut wurde. Immerhin wurde dieses Grundstück dem Kloster Disentis geschenkt und muss somit als Abbatis Cella (Niederlassung des Klosters) gedient haben, so dass die kleine Kapelle mit Sicherheit zusammen mit den dazugehörigen Wirtschaftsgebäuden errichtet wurde.

Das Fundament eines ehemaligen Refektoriums?

Doch das Wetter war für solch tiefgründige Betrachtungen nicht geeignet. Bei Nieselregen bedankten wir uns bei unserem Führer und kehrten zu einem wohlverdienten, wenn auch bescheidenen Mittagessen ein, bevor wir unsere Reise flussaufwärts entlang des Hinterrheins fortsetzten.

Auf der geräumigen Rückbank unseres Autos sitzend, ließ ich meine Gedanken schweifen und kehrte zur Herkunft unseres Namens zurück. Die Deutung des Reiseführers zu "Amedes" schien mir plausibel, ebenso seine Erklärung, dass die beiden Wörter "Ems" und "Domat" diesen Begriff als gemeinsame Wurzel hätten. Aber unsere Reise würde sich hinziehen, und ich nahm mir vor, zum Zeitvertreib andere Ursprünge für den Begriff "Amedes" auszudenken.

Vielleicht könnte ein Blick auf die Siedlung, die sich im Frühmittelalter an der Stelle des heutigen Domat/Ems gebildet hatte, Aufschluss geben. Der Ort liegt nicht nur direkt unter dem Zusammenfluss der beiden Rheinarme, sondern auch an der Kreuzung zweier Wege, die über die Alpen nach Italien führten: Der erste, wichtigere verlief entlang des Hinterrheins hinauf zum Splügen- und San Bernardinopass, der zweite folgte dem Vorderrhein und führte dann zum Diesrut- und Greinapass (der Lukmanierpass wurde erst nach der Gründung von Disentis erschlossen). Keine dieser Routen konnte jedoch mit Fuhrwerken befahren werden; dies war nur auf dem direkten Weg von Chur nach Süden über den Septimerpass möglich. Daher konnten nur Saumzüge von den südlichen Pässen nach Amedes gelangen.


Die Reisenden mit Maultieren, die sich auf diesen gefährlichen Wegen von Italien nach Norden quälten, mussten schwierige Passagen wie die berüchtigte Via Mala überwinden. Für sie muss es ein willkommener Anblick gewesen sein, als sie die relativ offene Ebene am Zusammenfluss der beiden Rheinarme erreichten. Es liegt nahe, dass sich hier eine Art Raststation befand, sicher schon in römischer Zeit, und auch in der rätoromanischen Nachfolgeprovinz. Auch ein kleiner Militärposten könnte hier bestanden haben. Zu solchen Einrichtungen gehörten natürlich auch einige "curtis", d.h. landwirtschaftliche Anwesen, die der Versorgung dienten und Weideflächen für die Maultiere boten. Angesichts der begrenzten Anbauflächen auf der regelmäßig überschwemmten und größtenteils sumpfigen Südseite des Rheins dürfte es sich nicht um große Anwesen gehandelt haben.

So gesehen scheint die Tuma Casti ein geeigneter Ort für eine solche Station gewesen zu sein, wahrscheinlich direkt am Saumpfad gelegen, der normalerweise auf einer Anhöhe über dem Fluss verlief und an diesem kleinen Hügel vorbeiführte. Sicher wurde die Anlage schon in der Antike durch eine kleine Kultstätte ergänzt, um den Göttern für die sichere Überquerung zu danken oder sie mit Opfern zu besänftigen, bevor man sich auf die Pässe begab. So ist es nur logisch, dass an dieser Stelle später eine kleine Kapelle entstand, die schließlich durch die größere Chaplutta ersetzt wurde, die wir heute noch bewundern können.

Zurück zum Namen "Amedes"! Abgesehen von der Interpretation des Reiseführers, die logisch erscheint und auch durch etymologische Studien gestützt wird, wagen wir die vielleicht naive Hypothese, dass eines der Anwesen nach einem seiner Besitzer benannt worden sein könnte. Wahrscheinlich nicht nach dem Gründer, denn der Betrieb muss schon seit Jahrhunderten bestanden haben. Aber warum nicht ein Besitzer, der z.B. ein kleines Heiligtum für die Reisenden errichtete, um dort zu beten oder zu opfern? Es muss ja nicht gleich eine Kapelle gewesen sein. Ein Götterbild, ein überdachtes Kreuz oder ein "Marterl", das an die wundersame Rettung einer Reisegruppe erinnert, könnte genügen.

Für diesen Wohltäter fiel mir, als ich im Auto darüber nachdachte, nur der spätrömische christliche Name "Amadeus" ein. Er bedeutet wörtlich übersetzt "Liebe Gott!" und hätte zweifellos bei jedem, der an diesem kleinen Heiligtum vorbeigezogen wäre und gehört hätte, dass ein Amadeus es erbaut hat, Anklang gefunden. Damit der Leser dies nicht für weit hergeholt hält, möchte ich ihn daran erinnern, dass aus "Amadeus" im Französischen "Amédé" geworden ist und im Rätoromanischen durchaus "Amedes" hätte werden können. Unartikulierte Vokale in lateinischen Namen neigen nämlich dazu, im Rätoromanischen unterdrückt zu werden. So wird aus "Amadeus" "Amades". Der Übergang zu "Amedes" ist dann nur mehr eine Frage der Aussprache.

Soweit meine heimgebackene Hypothese zur Herkunft unseres Namens! Um nicht als naiv zu gelten, bin ich mir bewusst, dass das letzte Wort in dieser Frage noch nicht gesprochen ist. Sie wird auch in Zukunft offen bleiben, es sei denn, es tauchen später Beweise auf, die sie ein für alle Mal klären. Ich hoffe es sehr, denn unser Familienname hängt davon ab!

 -o-

Erschöpft von meinen intellektuellen Grübeleien schlief ich ein, während Bruder Ludwig am Steuer saß und uns in zügiger Fahrt zum Splügenpass fuhr. Wir folgten derselben Richtung, die die Säumer vor so vielen Jahrhunderten genommen hatten, auch wenn wir uns durch den Berggrund bohrten, anstatt uns die steilen Hänge hinaufzuquälen. Ich wachte erst auf, als mich die Sonne an der Nase kitzelte, wir schon im Tessin waren und südwärts in Richtung Lombardei eilten, in das "Land, wo die Zitronen blühn."

Kennst du das Land wo die Zitronen blühn?
Maler; Tischbein                                                          Quelle: Goetheportal
Quelle: Städel Museum                                                                                  

Kommentare

  1. Vorsicht! Dieser Blog kann süchtig machen!
    Ein großer Reiseschriftsteller ist an dir verloren gegangen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich Google Maps inzwischen durchsucht habe, um all diese Orte zu finden. Vielen Dank für diese kurzweiligen und interessanten Beiträge!

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