SÆHRÍMNIR

Sæhrímnir, der ewige Eber
Künstler: Torulf Dunder

Seit meiner Übersiedlung nach Nordeuropa in den frühen 1960er Jahren bin ich von der nordischen Mythologie fasziniert. Besonders die Geschichte von Sæhrímnir, dem Eber, kommt mir nicht aus dem Sinn. Dieses saftige Schwein wird den edlen Kriegern in der großen Halle von Walhall serviert und mit großem Appetit verspeist. Anschließend nagen Odins Hunde Geri und Freki an den Knochen. Wie durch ein Wunder erwacht der Eber am nächsten Morgen wieder zum Leben, sodass er am gleichen Abend erneut verspeist werden kann.

Wer würde nicht gerne ein ewiges Schwein besitzen? Leider ist ein solcher Schatz für uns Sterbliche unerreichbar. In seltenen Fällen können wir jedoch über eine Ressource verfügen, die dem Original sehr nahekommt. Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die Grafschaft Tirol im 15. Jahrhundert.

Die Grafschaft umfasste damals hauptsächlich das heutige Tirol in Österreich zusammen mit Südtirol. Zu Beginn des Jahrhunderts residierte der Graf im südlichen Meran, später wurde die Residenz jedoch in den Norden nach Innsbruck verlegt. Tirol liegt in und zwischen hohen Bergen. Die Landwirtschaft war damals nicht die Hauptquelle des Reichtums, auch wenn das Feudalsystem auf Grundbesitz aufbaute. Stattdessen gedieh Tirol als Transitland, mit seinen Passübergängen von den nördlichen Reichsteilen zu den wohlhabenden Provinzen Lombardei und Venetien im Süden.

Prägung von Silbermünzen in Tirol
Bild aus Lässl (1556), Das Schwazer Bergbuch
Quelle
: Ferdinandeum, Innsbruck

Tirol unterschied sich in dieser Hinsicht nicht von den Nachbarregionen, die sich über die Alpen erstreckten und ähnliche landwirtschaftliche und verkehrstechnische Bedingungen boten. Doch florierte die Grafschaft auch dank zahlreicher Bodenschätze, die in ihren Höhenlagen abgebaut wurden; vor allem dank ihrem Sæhrímnir aus Silber, der den Tiroler Fürsten immerzu Reichtum schenkte.

Silber wurde ursprünglich im Süden Tirols um Meran abgebaut. Der Graf von Tirol hatte das Recht auf ein Zehntel dieses Edelmetalls, das in den Bergwerken seines Territoriums gefördert wurde. Die Betreiber, in erster Linie lokale Kleinbergleute, mussten die Förderungskosten tragen. Der Landesfürst prägte mit seinem Silberanteil Geld (Silvermünzen) in der Münzstätte von Meran. Die dadurch entstehende enorme Seignorage war die Hauptquelle seines Einkommens und Vermögens.

Dreikreutzermünze von Siegmund
Photograph: Junghans

Unter der Herrschaft des Habsburger Grafen Friedrich IV. (etwas unzutreffend „Friedel mit der leeren Tasche“ genannt) wurden in Nordtirol neue Silbervorkommen erschlossen. Dies führte zu dem berühmten Silberschatz von Schwaz. Friedrich (1382-1439) war ein sparsamer und fleißiger Herrscher, der seine Gewinne sinnvoll einsetzte. Trotz zahlreicher schwerer Rückschläge während seiner Regierungszeit (Am Abgrund) konnte er den Großteil seiner 1415 verlorenen Herrschaften zurückgewinnen und danach sein Vermögen so vermehren, dass er bei seinem Tod ganze Fässer voll mit Silbermünzen seinem Sohn Siegmund „dem Münzreichen“ als Starthilfe für dessen Regierung vererben konnte.

Siegmund (1427-1496) erwies sich zu Beginn seiner Regierungszeit als ebenso ehrgeizig wie sein Vater, seine Herrschaft zu festigen und auszuweiten. Allerdings setzte er seinem ausschweifenden Lebensstil am Hof keine Grenzen und wurde schon in seinen Fünfzigern zunehmend senil. Völlig in den Händen verräterischer Berater, ließ er sich dazu verleiten, einen verhängnisvollen Krieg gegen Venedig zu führen, der ihn ein Vermögen kostete. So sah er sich schließlich gezwungen, seine Besitzungen in Vorderösterreich (westlich des Arlbergs) an den Herzog von Bayern zu verpfänden. Er bereitete sogar die Abtretung seiner Grafschaft Tirol an diesen nördlichen Nachbarn vor. Kaiser Friedrich III. (1415-93), konnte ihn schließlich im Jahr 1490 zur Abdankung bewegen und die Grafschaft seinem eigenen Sohn, Maximilian I. (1459-1519), übergeben.

Friedrich IV.                                                   Siegmund I.
Zwei Grafen von Tirol, ein sparsamer und ein nicht so sparsamer
Quelle: Kunsthistorisches M., Wien                Quelle: Alte Pinakothek, München

Zu dieser Zeit war Sæhrímnir endgültig ausgereift: Schwaz wurde das größte Silberbergwerk Europas. Für Maximilian war Tirol „eine Geldbörse, in die man nie umsonst greift“. Die immensen Schätze, die Maximilian damit erwarb, erlaubten es dem energischen Herrscher, die Machtbasis seiner Dynastie kräftig zu stärken und die Konsolidierung des Reiches der Römer anzugehen. Mit letzterem hatte er nur teilweisen Erfolg. Zwar gelang es ihm, den habsburgischen Anspruch auf die Krone zu festigen, doch seine zahlreichen schlecht durchdachten und durchgeführten Feldzüge erschöpften mit der Zeit sogar das Potenzial Sæhrímnirs.

Gedenkmünze für Maximilian I.
Künstler: Benedikt Burkhart
Quelle: Národni Museum Prag

Bei seinem Tod war er mit sechs Millionen Gulden verschuldet, eine Schuld die erst nach einem Jahrhundert von seinen Erben getilgt werden konnte. Und die Silberadern von Schwaz gingen zur Neige gerade als sein Nachfolger, Karl V., den Thron besteigen sollte. Seine Königskrone wurde mit den letzten Silberbarren gekauft, die den Schmelzwerken gerade noch abgerungen werden konnten.

Hier erfahren wir etwas, das sich in der Geschichte immer wiederholt: Reicher Bodenschatz verleitet oft zu Hybris, was mit Verschwendung einhergeht. Ist der Schatz erstmals aufgebraucht, bleiben nur Schulden zurück, die es zu tilgen gilt.

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Als die Tiroler Grafen zu kaiserlichem Glanz aufstiegen, traten die Emser Ritter in ihre Fußstapfen. Wie wir bereits wissen (Phoenix ascendens), waren sie von Anfang an stetige Verbündete der habsburgischen Herrscher in Tirol. Sie dienten ihnen in verschiedenen Funktionen, etwa als Hofverwalter und Statthalter habsburgischer Herrschaften. Nicht zuletzt kämpften sie an ihrer Seite als verbündete Ritter und später als Landsknechts- obristen in den zahlreichen Kriegszügen Maximilians I., Karls V. und Philipps II. Ihr Schicksal ist ein Spiegelbild der Habsburger: Während sich die Taschen der Habsburger leerten, füllten sie ihre eigenen mit Silber. In der Zwischenzeit erweiterten sich ihre Herrschaftsgebiete im Gleichschritt mit den Habsburgern, die ihrerseits ihre Erbländer fast ins Unermessliche steigerten.

Hybris ...       ... wird zu Papier!
Kaiser Maximilians (papierene) Ehrenpforte
Künstler: Albrecht Dürer (1515)
Quelle: National Gallery of Art, Wash. D.C.

Auch ihre Misserfolge glichen denen der Habsburger. Letztere sicherten sich zwar mit dem Silber aus den Tiroler Bergen die Krone des Römischen Reiches, doch gelang es ihnen nie, ein konsolidiertes Reich zu schaffen. Die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) machte ihren Plänen endgültig den Garaus. In kleinerem Rahmen stiegen die Emser zwar als Reichsgrafen in den Hochadel auf (Himmlische Gönnung), strebten aber noch höher: Sie wollten ihre Territorien zum Reichsfürstentum erhoben sehen (Große Erwartungen). Auch diese Ambitionen wurden durch den Dreißigjährigen Krieg durchkreuzt.

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Nun zurück zu profaneren Dingen! Auch die Emser konnten von einem Schatz im Berg profitieren. In den Höhen ihrer kleinen Herrschaft wurde bereits früh nach Silber und Blei geschürft. Das wissen wir, weil unter den Besitzen, die ihnen König Sigismund 1433 als Reichslehen bestätigte, auch ein Bergwerk aufgeführt ist. Zu diesem Zeitpunkt hatte es seine Bedeutung jedoch bereits verloren und heute sind keine Spuren mehr davon zu finden. Die Einnahmen aus diesem Bergwerk könnten jedoch die plötzliche Ausdehnung der Emser Gebiete zur Zeit Ulrichs des Reichen (sic!) im 14. Jahrhundert erklären.

Wie bereits dargelegt (Am Abgrund), gelang es den Emsern in der Zeit Ulrichs II. (ca. 1323 – ca. 1402), ihren Besitz zu verdreifachen – vor allem durch Darlehen gegen Pfand auf Herrschaften, die sie sich aneigneten sobald die Schulden nicht getilgt wurden. Durch ihr Silber wurden die Emser damals zu soliden Bankiers, und sie wussten genau, wie sie ihren Silverschatz gut zu nutzen hatten. Sie halfen sogar ihren Königen immer wieder mit bedeutenden Krediten aus, was ihnen den Ritterstand und 1430 den Besitz eigener Reichsgüter bescherte.

Ein Silberbergwerk in der Renaissance
Aufschlag aus Agricola (1561), De re metallica libri XII
Quelle
: Eisenbibliothek, Schlatt

Leider muss das Bergwerk bereits erschöpft gewesen sein, als die Familie nach dem Angriff der Appenzeller in den Jahren 1407/08 (Am Abgrund) dringend Silber benötigte. So wurden aus glücklichen Gläubigern unglückliche Schuldner! Von da an konnte ihr Erfolg nur noch auf Dienstleistungen für ihre habsburgischen Nachbarn bauen. Doch dies ist wiederum ein Vorteil für uns, denn so ergeben sich spannende Geschichten, die wir in zukünftigen Blogbeiträgen weiterverfolgen können.

Kommentare

  1. Kommentar von Anonymous:

    Das arme stolze Schwein des Nordens! Auf seiner Reise in den sonnigen Süden ist es zuerst verkommen in Schnitzel und Neujahrsglück, um dann schließlich im Wüstensand gänzlich unterzugehen. Das Graben nach Geschenken der Mutter Erde, wo immer, ist so gefährlich wie brauchbar. Am schwierigsten ist der Mittelweg.
    Friedl

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